Ich, der Autor, wurde 1952 in Berlin geboren und studierte dort an der Freien Universität seit 1971 Mathematik und Physik. Die Freude am Umgang mit mathematischen Zeichen und darüber, daß sie sich auf die Natur anwenden lassen, trat neben meine Vorliebe für Geschichte und Zahlen, die Ordnung in sie bringen. Darüber hinaus ging mein Sinn für das Gemeinsame beider Bereiche nicht. Jedenfalls war ich bei meinem Studium der Geschichte, das in die Schulzeit zurückreicht, lange noch ohne Bewußtsein, daß zwischen Naturwissenschaft und Geschichte ein Zusammenhang besteht. Ihn sah C. F. v. Weizsäcker darin, daß erstere erkläre, wie etwas funktioniert, und letztere, warum Menschen ein Interesse dafür haben. Ich sehe heute überdies eine enge Verbindung zwischen exakter Empirie, durch die sich physikalisches Erklären auszeichnet, und exakter Phantasie, die bei historischer Erklärung verlangt ist.
Meine Beschäftigung mit Stammtafeln, die sich gar nicht um Technik und Naturbeherrschung zu drehen scheinen, hat mir zunehmend bewußt gemacht, daß sie anders erscheinen, wenn man sie im Licht der Heiratspolitik betrachtet. Stammtafeln, in die man sich vertieft, haben es in sich.
Was den europäischen Adel des Mittelalters betrifft, erwecken sie das Bild eines Unternehmens, in welchem die aus der Praxis von Landbesitz und -vererbung gewonnene Kompetenz so effizient in sozialtechnische Beherrschung umgesetzt wurde, daß der Sozialcharakter, den es dabei produzierte, über ein halbes Jahrhundert hielt.
Doch für das Entscheidende an dem erstaunlichen Phänomen, wie es sich in den Stammtafeln widerspiegelt, halte ich den gezielten Einsatz des Instruments der Heirat, durch den von Generation zu Generation diese Kompetenz sich reproduzierte und fortschritt. Denn nach dem gängigen Bild verkörperten die Adligen mit ihren irrationalen Privilegien vielmehr Rückschritt und gesellschaftlichen Wildwuchs, dessen sozialtechnische Beherrschung ihre Gegner, die Aufklärer, von der Revolution erwarteten.
Indes kann, meine ich, die exakte Phantasie sich von Phänomenen wie der Heiratspolitik anregen lassen, die geläufige Rollenverteilung - Adlige als Exponenten der irrationalen Geschichte, Aufklärer als Schrittmacher der rationalen Physik - zu überdenken. Französische und Industrielle Revolution trafen nicht zufällig zusammen. Die instrumentelle Rationalität, die in letzterer triumphierte, scheint mir vom Adel, der in ersterer zugrunde ging, längst vorbereitet und praktiziert worden zu sein. Dem Interesse an ihr gab die Revolution freilich eine neue Richtung.